Haben wir nicht, gibt es nicht, dass haben wir schon immer so gemacht

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Wer von „Heimat in der Ferne“ spricht, der sollte vielleicht für sich selbst erst einmal ausmachen, was Heimat überhaupt bedeutet. Ist die Heimat der Geburtsort, der Ort mit der längsten Aufenthaltsdauer oder der Ort, mit dem höchsten Wohlfühlfaktor? In Zeiten von Arbeitslosigkeit und Hartz 4 müssen die meisten Menschen in gepackten Koffern leben, um nicht irgendwann abzurutschen. Die Heimat bleibt da oft auf der Strecke – genauso wie das Privatleben. Braunschweig, Hannover, Berlin und jetzt Holzminden. Leicht fiel die Entscheidung nicht, von der Hauptstadt in die niedersächsische Provinz zu wechseln. Doch als geborener Niedersachse war die Gegend bekannt und deshalb nicht völlig fremd. Ein echter Berliner könnte sich für diesen Abschnitt der Republik wohl nur schwer begeistern. Die ersten Eindrücke der neuen Heimat waren allerdings ziemlich durchwachsen. Auf der einen Seite die Schönheit der Natur, die Weserlandschaft und die alten Fachwerkhäuser in den Städten. Doch ein Rundgang durch die Holzmindener Innenstand machte auch die Probleme der Region deutlich. Reihenweise leer stehende Geschäfte und kaum Menschen auf den Straßen – Ein Gang durch die Fußgängerzone ist ohne Stress verbunden. Gedränge gibt es hier nicht. Ein Hochschulstandort ohne Leben. Auch in Stadtoldendorf, 14 Kilometer weiter, das gleiche Bild: Verrammelt, geschlossen und vernagelt. Hier verirrt sich kaum noch jemand in die kleine Geschäftsmeile. Auf dem Altstadtfest tote Hose. Verwaiste Getränkestände, an denen auch die Bediensteten wohl auch schon die Flucht ergriffen haben. Etwas zu trinken zu bekommen, erwies sich als sehr schwierig. Und wenn, werden Bekannte, Verwandte, Verschwägerte und was weiß ich, als erstes bedient. Nach der Reihe geht es hier nicht. Beim Einwohnermeldeamt wird mit Unverständnis reagiert: „Warum ziehen Sie denn hierher, wenn doch alle wegziehen?“. Bei einer solchen Frage kommen einem natürlich die ersten Zweifel an der eigenen Lebensentscheidung.

Das Weserbergland ist anders. Auch die Menschen, die hier leben, sind anders. Sie sind auffallend freundlich und hilfsbereit. Teilweise schon so extrem, dass es einem unangenehm ist oder als unheimlich erscheint. Hier wird auch noch gegrüßt, in Berlin werden einem dafür im schlimmsten Fall Schläge angedroht „was grüßt Du mich? Machst Du mich an oder was?“. Jeder scheint hier jeden zu kennen, jeder weiß alles über den anderen. Die Anonymität einer Großstadt gibt es hier definitiv nicht. Man muss eher aufpassen, was man sagt, denn alles spricht sich schnell herum – immer unklar, wer mit wem verbandelt ist. Alles funktioniert langsamer. Großartige Hektik entsteht nur selten. Mit gewissen Eigenheiten muss man sich erst anfreunden. Da schließt schon mal das Geschäft ein paar Minuten früher als ausgeschrieben oder es ist in einem geöffneten Laden überhaupt niemand anwesend. Auch der Würstchenverkäufer in der Bülte steht an seinem Grill, mit der Zange in der Hand. Aber Bratwürste gibt es nicht, nur noch fettige Buletten. Unfassbar, vor einem Supermarkt zu stehen und die Würstchen sind alle. An manchen Tagen liegen Würstchen auch auf dem Grill, aber niemand ist da, als wenn ein Geist sie auf dem Rost wenden würde. Vielleicht geht es den Menschen hier so gut, dass sie kein Geld mehr verdienen müssen. Nicht anders ein Maklerbüro. Geht ein Mitarbeiter in Urlaub, können dessen betreute Immobilien nicht besichtigt werden. Vertretungen scheint es hier nicht zu geben. Morgens bei REWE an der Kasse: Bezahlen unmöglich, denn die Kasse ist nicht besetzt. Auch rufen hilft nichts, keiner kommt. Das erste Mal in meinem Leben, dass ich Geld an der Kasse eines Supermarktes legen musste und dann gegangen bin. In den Geschäften ist oft niemand anzutreffen und wenn, dann schrecken die Menschen, die dort arbeiten, fast hoch, wenn ich den Laden betrete. In vielen Bereichen ist das schöne Weserbergland auch rückständig. Sprüche wie „machen wir nicht“ oder „das haben wir schon immer so gemacht“ sind auffallend oft zu hören. Für Neues ist kaum, einer zu begeistern. Dennoch weiß ich schon vieles in der Region zu schätzen. Die Ruhe, die vielen Freizeitmöglichkeiten und die attraktiven Wohnmöglichkeiten. Bei den Immobilienpreisen ist es schon fast dumm noch zur Miete zu wohnen. Doch warum etwas kaufen, wenn nicht sicher ist, was am nächsten Tag passiert...

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Hendrik Lorenz

*1970 in Braunschweig.
Technischer Redakteur, Offsetdrucker und professionelles Arschloch.

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Kommentare

Hendrik gefällt ein Kommentar bei Impressum
God Tonya, come over email!!!! postamt@hendrik-lorenz.de
In einem Artikel
Tonya hayslett gefällt ein Kommentar bei Impressum
Hey hendrik it's me Tonya took me a while but got a phone to find you
Mansour gefällt ein Kommentar bei Kotte & Zeller - Eine unendliche Bestellung
Interessant ist, dass dieser Bericht bereits 10 Jahre her ist, und an der Informationspolitik hat si...
Ich war letzte Woche, Anfang Juni, dort Übernachten. Ziemlich unruhig dort. Kann man nur am WE besuc...
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